Freitag, 13. Februar 2009

Solange man noch 'ne Packung Kippen in der Tasche hat,

... ist die Welt ja noch in Ordnung. Lange, lange ist es her, da hatte ich eine kleine russische Freundin. Als ich das erste Mal, also als ich das erste Mal bei ihr übernachtet habe, hat sie mir dieses Lied von Viktor Zoi und seiner Gruppe Kino zum Einschlafen ins Ohr gesungen und mir schossen vor Rührung die Tränen in die Augen. Das große Vermächtnis von Kino war, dass sie die Trostlosigkeit und Ausweglosigkeit, die den Zeitgeist der letzten Phase der Sowjetunion prägte, musikalisch einfach mal extrem gut auf den Punkt brachten. Das Lied ist mittlerweile sowas wie russisch-sowjetisches Kulturerbe und jeder GUS-Mensch kennt es auswendig und verbindet damit Gutes wie Schlechtes.



Die Gruppe Kino mit einer depressiven "Packung Zigaretten" (1988)


Die Zeiten änderten sich und das alte Wertesystem machte einem neuen, einem turbokapitalistischen Ideal Platz. Im Jahr 1999 oder 2000 war ich dann mal im schönen Minsk, der Hauptstadt von Belarus, die damals wie ein großes Abbild der Berliner Karl-Marx-Allee zu Wendezeiten auf mich wirkte. Am ersten Tag in Minsk kaufte ich mir ein Graubrot und so einen viereckigen Schmelzkäse in Alufolie. Ich stand gerade vor der mauligen Kassiererin, die in diesem staatlichen Lebensmittelladen neben der alten Traktorenfabrik einfach mal die Macht hatte und mit stalinistischen Methoden auskostete. "Tüte?", blökte sie in mein linkes Ohr, als wäre sie ein Offizier der Roten Armee und ich ihr kleiner Reservist. Mein rechtes Ohr war gleichzeitig beseelt von interessanter Musik. Im Radio lief die Rap-Gruppe "Legalnyj Biznjess" aus Sankt Petersbusg und Moskau mit einer Cover-Version von Kinos "Patschka Sigaret". Mein leidenschaftliches Interesse für Russenrap war geweckt. Ich trug es in der Plastiktüte mit nach Hause ins Wohnheim.



Legalnyj Biznjess mit einer optimistischen "Packung Zigaretten" (1999)


Im Gegensatz zum Schmelzkäse mit seinen ausgetrockneten und brüchigen Rändern und zum Graubrot, dessen trockende Krümel sich in meinem Mund trotz Beigabe von Chlorleitungswasser unentwegt vermehrten, zehre ich noch heute davon. Denn so wie Viktor Zoi ein Jahrzehnt zuvor, trafen "Legalnyj Biznjess" das Lebensgefühl des neuen Russlands der Post-Perestroika-Zeit mit seinen neuen Russen, seinen neuen und zerstörten Hoffnungen und einer Jugend, die nichts zu verlieren hat. "Alles wird gut", heißt es dann auch im Chorus am Ende des Tracks. Diese generationsübergreifende "Wird schon"-Mentalität der Russen hat mich nachhaltig geprägt und mich manche kleine und große Krise überstehen lassen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

aus einem Schmelzkäse und einer Schachtel Zigaretten die Geschichte des 20. Jahrhunderts lesen - Hut ab. ich würde gerne noch mehr über Ostmusikgeschichte hier lesen.