Donnerstag, 10. Dezember 2009

Zehntes Türchen

Heute, am zehnten Dezember führt uns Jenz Steiner in die Berliner Unterwelt der Mittneunziger. Weihnachten 1996 mit heißen Tangorhythmen im Jugendstil-Ambiente und illegalen Drum'n'Bass-Sounds in unterirdischen Pissoirs. Weihnachten in einer Stadt, die es so nicht mehr gibt.












Fortsetzung vom 9. Dezember:

Nach dem symbolischen Sturz der Kommerz-Diktatur über das Weihnachtsfest trafen wir uns mit ein paar Freunden und zogen in Richtung Mitte. Erste Station: Roter Salon, Volksbühne. Heiß und unchristlich ging es hier zu. Ein Knistern lag in der rauchigen Luft zwischen Jugendstilkronleuchtern und Messingspiegeln. Hier wurde Tango getanzt, und zwar richtig. Die Zwanziger waren wieder lebendig.

Eine kleine Zeitreise! Hier brutzelte kein Gänsebraten, hier kochten die Emotionen im 2/4-Takt. Diese Tänzerinnen waren Vamps. Sie spielten mit ihren Tanzpartnern, wickelten sie um die Finger und ließen sie nach jeder Runde schnell fallen wie eine heiße Kartoffel. Die Trommelwirbel, der Schweiß, die Gitarren, der Qualm und das Akkordeon wurden uns aber schnell zu viel. Johanna, ein blondes Mädchen mit Kapuzenteil, so alt wie ich, schloss sich uns an. Wir zogen die Wilhelm-Pieck-Straße, die jetzt wieder Torstraße heißt, runter und wurden immer mehr. Wer wollte schon am Heiligen Abend mit den Eltern vor der Glotze versauern?


Hier am Rosenthaler Platz, auf der Warteinsel, einige Meter links von hier befand sich der Zugang zum illegalen Sexyland, einer ehemaligen öffentlichen Toilette, die seit den späten Siebzigern dicht war wie die Zugänge zur Westberliner U8.


Die Berliner Klubkultur brodelte Mitte der Neunziger nicht nur, sie kochte fast über. Jungle, Drum'n'Bass, Trip-Hop oder Latin Lounge waren Zauberwörter, mit denen man jeden Laden voll bekam. Auch zu Weihnachten. Zweite Station: Sexyland. Auf der Straßenbahnhaltestelleninsel in Richtung Osten führte eine schmale, graublaue Treppe in die Berliner Unterwelt, eigentlich nur in eine ehemalige öffentliche Toilette, die nun illegal bis halblegal als Klub umgenutzt wurde. Bedingt gemütlich war es da. Weiße Fliesen an den Wänden, Turntables auf Bierkästen, eine kleine Diskokugel an der Decke, mittige Drum 'n'Bass-Sounds.



Fotos vom Rosenthaler Platz: creative commons, flickr








Das einzige abgeranzte Sofa hatten Johanna und ich in Beschlag genommen. Aus meinen Plänen sie zu küssen, wurde nichts mehr, weil sie mir ohne Pause von ihren Chorfahrten und vom tollen Weihnachtsoratorium erzählen musste, während ich ihr blondes Haar zwirbelte. Da konnte ich noch so sehr in die Offensive gehen. Die Anderen tanzten. Seb kam irgendwann an und fragte: „Ey, wo issn Niko?“, „Keen Plan!“. Nach ein paar Minuten tauchte Niko wieder auf. In der rechten Hand hielt er seine Metallsäge, in der linken einen abgesägten halben Hörer aus einer öffentlichen Telefonzelle. Die waren damals noch gelb wie der Weihnachtsstern.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Oh, ich liebe diese Objekte, die sich im Laufe einer nächtlichen Tour immer wieder angesammelt haben. Ein abgesägter halber Telefonhörer ist natürlich besonders großartig :D

Ein Kumpel von mir hat mal eine Parkbank aus Metall die ganze Nacht besoffen durch die Gegend geschleppt und schaffte es sogar, diese am Türsteher vorbei in den Club zu schmuggeln. Die stand dann drei Jahre in seinem Zimmer, bis wir uns zu zweit die Mühe gemacht haben, sie bei seinem Auszug aus der Wohnung wieder zurück an den Fundort zu bringen, wo immer noch die Lücke zwischen den anderen Banken am Ort klaffte.