Sonntag, 12. Dezember 2010

Andys Weihnachtstagebuch: Seite 12 - Drogerie Sucker

Sonntag, 12. Dezember 1999

In meinem Weihnachtskalender war heute ein Stiefel drinne. Nicht ohne Grund. Ich bin heute wirklich durch die ganze Stadt gestiefelt. Ich liebe ja die Amerikaner für ihre offene Art. Heute hat mich am Alex eine blonde Ami-Frau angequatscht, ob ich wüsste, was man in Berlin in acht Stunden alles machen kann. Die hatte was. Blond, hübsch und schlank und mit wenig Gepäck hat sie sich in den letzten zwei Wochen mit Interrail-Ticket durch Europa geschlängelt. In Berlin hat sich Julie , so hieß sie, Ende November in irgend 'nen Zug gesetzt und heute musste sie wieder zurück - von Berlin Tempelhof nach Brüssel und von dort zurück nach New Jersey.


"Ich laufe durch Moskau" hieß der alte Russenfilm, den sich Andy und die amerikanische Interrail Bagpackerin Julie nach zehn Kilometern Fußweg durch Berlin im Acud Kino in der Veteranenstraße angesehen haben.

Wir kamen schnell ins Gespräch. Ich schlug vor, ihr alle Ecken der Stadt zu zeigen, die sie in keinem amerikanischen Reiseführer findet. Ich bin mit ihr vom Alex durchs Scheunenviertel in die Rosenthaler Straße gezogen. In der Auguststraße waren wir in einer Video-Ausstellung in der "Galerie zum Weißen Elefanten".

Zwischen Rosenthaler, Invaliden und Bernauer ist ja ganz schön tote Hose. In immer kürzeren Abständen klebten in den kleinen Läden Schilder mit Aufschriften wie "Räumungsverkauf wegen Geschäftsaufgabe" oder "Nachmieter gesucht". Das ist mir bisher noch gar nicht so aufgefallen. Aber vier Augen sehen mehr als zwei, vor allem, wenn zwei Augen davon alles noch wacher und interessierter wahrnehmen. Ich habe alles übersetzt, soweit ich konnte. Jedes Schild. Doch auf die Frage: „What does Schlecker mean?“ wusste ich keine rechte Antwort. Vielleicht 'sucker'. Von ihr kam nur ein: „Why would they name a drugstore 'sucker'? That's strange!“
Sie hat sich auch darüber lustig gemacht, dass an den Flaschencontainern Einwurfzeiten standen. "This is so german." Was sollte ich da sagen?

Nach einer halben Stunde auf den Mauerpark-Schaukeln sind wir Bornholmer Straße in die S-Bahn gestiegen und nach Treptow gefahren. Ihr „Oh, I love all the graffiti here.“ klingt mir immer noch in den Ohren. Vielleicht hätte sie es nicht sagen sollen. Ich hab ihr erstmal einen Vortrag über die Berliner Writer-Szene gehalten und sie regelrecht zugebombt mit meinem SOS, SAS, RCB, GHS, GFA, KO, CAF, BAD, ESC, THC, MRN, BFM-Gelaber.

Wir sind ein Stück an der Spree lang, dann zum Sowjetischen Ehrenmal, wo sie bestimmt einen ganzen Film vollgeknippst hat. Über Kreuzberg und die Eastside-Gallery sind wir bis nach Mitte zurück gelatscht. Sie hat echt gut durchgehalten. Wir waren dann noch im Acud Kino in der Veteranenstraße und haben uns einen russischen Film angeguckt „Ja schagaju po Moskwe“ - Ich laufe durch Moskau. Passt ja. Julie meinte, sie wäre noch nie in so einem kleinen Kino gewesen und erst recht nicht in einem Kino im vierten Stock.

Nach dem Film waren wir noch unten im Café. Eine Jazz-Band machte da gerade Soundcheck für ihr Benefiz-Konzert. Krasse Atmosphäre war das. Das Acud pfeift auch gerade auf dem letzten Loch und sammelt Spenden. »Ums überleben der Kultur - 3000 x 100 DM zur Rettung des ACUD« stand auf einem Plakat. Julie zog ihren Brustbeutel vor und stopfte all ihre Münzen und Scheine in eine Spendendose, Pfund, Lire, Schilling, Kronen, Pesos. Das hat mich beeindruckt.

Julie zeigte mir ihr Skizzenbuch. Sie ist Modezeichnerin. In allen Städten auf ihrer Tour hat sie gezeichnet, was die Leute da so am Leib tragen. Das ist ihr „personal research project - just for fun“. Ich war schwer beeindruckt. Plötzlich wurde sie hibbelig. Noch eine knappe Stunde bis zum Abflug. Ich wollte sie noch zum Flughafen bringen. Das lehnte sie strikt ab. Das wäre ihr zu dramatisch. Aber zum U-Bahnhof Rosenthaler Platz habe ich sie noch gebracht. So leidenschaftlich hat sich bei mir noch nie jemand verabschiedet. Das war mein erster richtiger Kuss seit, ach, Ewigkeiten. Ihr "Thank you so much Andy for ..." wurde vom "tuuuudiiiiduut" und den zuknallenden U-Bahn-Türen abgeschnitten. Jetzt ist sie weg.

2 Kommentare:

Meikel Neid hat gesagt…

schön, ditt tagebuch!

Cabot hat gesagt…

abgefahrenes erlebnis