Samstag, 4. September 2010

Tunnelblick #1

Die russische oder japanische Szene des Glitch, HipHop und Wonky ist durchaus interessant, aber zum größten Teil ziemlich zugemüllt mit jungen Künstlern, die nach 4 Monaten schon denken ein Projekt starten zu können oder mit schlecht ausgearbeiteten Produktionen die Welt von Soundcloud bedrängen. Allgemein empfange ich an die 30 - 40 Demos aus Russland, der USA oder Japan in einer Woche und dabei gab es oft Momente der Verzweiflung, über das Verarbeiten von Tönen und Samples! Oftmals stellt man sich die Frage: "Bin ich schon zu alt, um das zu verstehen oder haben die überhaupt kein Gefühl mehr was qualitativ gut oder hörbar ist?". Meiner Meinung nach liegt es auch an folgendem Problem, aber ihr könnt mir gerne widersprechen....

Schnelllebig surft die Jugend durch das Netz und so mancher wunderbare Track wird über Soundcloud oder MySpace geschluckt, verdaut und maximal ein Tag später wiedergekäut. Wenn es ganz gut kommt, landet man auf einer der zahlreichen Online Sampler, die ebenfalls weggezischt werden, wie der Vodka / Red Bull Mix im Club... Was aber auch meistens an den wahl - und gefühlslosen Zusammstellungen liegt.

Binh meinte gestern dazu, dass es einfach intensiver ist, jegliche Beats oder andere Produktionen auf einer Platte oder Cd zu hören, weil die Musik dadurch viel mehr Zeit hat einen zu berühren oder vielleicht hat der Künstler einen größeres Spektrum, sich etwas näher zu bringen. Cover, Booklets oder seien es nur Credits, auch diese lassen manchmal so vieles erzählen oder in sich entwicklen. Ich stimme ihm zu, denn während der ein oder andere 17 jährige wild klickend von Seite zu Seite rotzt, hängen wir am Plattenspieler und genießen das Drumherum.

Erklärungen wie: "Ich würde mir gerne Platten kaufen, habe aber leider kein Geld!" Ähh, gut und wenn man sich einfach ein paar Nike's weniger kauft? Ich hatte zu meiner Lehrzeit 150 DM im Monat und ich verlange nicht, diesen Betrag für Hardcopies zu verkloppen, aber warum kam ich zurecht? Lag es an meiner Monate alten BW Hose oder ja klar, ich habe bei Mutti gewohnt! Das machen doch aber die meisten im jungen Alter immer noch, oder sind jetzt alle viel selbständiger und haben daher kein Geld für Anspruch oder Kultur?

Ich möchte keine Diskussion über den Verfall von Cd oder Vinyl herunterbrechen. Nein, mir geht es um die doch so tiefe Szene und Jugend der Produzenten oder Zuhörer. Die, die eigentlich Vinyl so hochhalten und gerne alles benutzen, um es zu verkörpern in Blogs oder sogar Magazinen, aber letztendlich im Internet hausen ohne jegliche Vernunft. Es geht mir um Labels, die sich so nennen, aber Digital um sich schmeißen als gäbe es kein Morgen. Songs greifen und dann erst auf Reaktionen warten, wenn ungemastert und ohne Liebe alles nach draußen geschossen wird, denn jeder abstrakte Song könnte ja ein Hit werden...

Das Feuer des Trends kann viel erblühen lassen, aber lasst uns doch atmen, damit wir im Dunst noch etwas sehen können. Mir ist bewusst, dass das vergänglich ist und die Evolution zuschlägt, aber muss man Abstumpfung aktzeptieren? Musikalisch und in Wertschätzungen?

Ist ein Netlabel ein Label, nur weil es eine Plattform ist, wo 3 mal ein Download angeboten wurde? Kann man sich Flying Lotus als Künstler auf seine Website schreiben, weil er mal einen gut bezahlten Remix gemacht hat? Ist das gerecht zur guten Labelarbeit?

13 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Ja!

JAOS hat gesagt…

Das Thema liegt mir schon lange quer und du sprichst mir aus der Seele. Schade um so viel Arbeit, wenn nur 2 minuten schnell gehört werden und dann war es das.

Zeal hat gesagt…

du kommst immer mit den themen, die man nicht mal schnell beantworten kann.

prinzipiell sind physische tonträger natürlich viel spannender. ich finde labels, die auf diese tonträger setzen auch wesentlich spannender bzw. releases, die so kommen.

allerdings habt ihr bei pmc ja auch schon den unterschied erkannt und die vorteile, wenn ich mich recht entsinne, bemustert ihr ja auch digital.

das macht sinn und kleinere, noch ärmere labels, die vor allem unbekannten künstler veröffentlichen müssen ja t.w. sparen und daher macht es u.u. (ich sage nicht immer) doch auch sinn, die leute digital zu beliefern. ein traum ist das nicht und kurzlebig ist das auch. aber man kann auch nicht an gegebenheiten vorbei releasen.

was soll ein label tun, wenn sie u.u. keinen vertrieb haben oder die retouren eiens vertriebs zu hoch sind weil die releases zu wenig nahgefragt wurden. was soll ein label tun, dass nicht in der schönen position ist und über hhv einen direkt vertriebsweg zur hand hat.

mit der digitalisierung ändern sich leider auch das konsumverhalten. ob das gut oder schlecht ist, maße ich mir nicht an zu sagen.

ich sehe das so: etablierte labels können sich physische tonträger leisten. neue labels oft nicht, klar ist bei neuen labels viel müll dabei, aber für eine gute demo als mp3 würde ich mir 39 schlechte anhören.

* hat gesagt…

ich hab mit "konsumieren" so meine probleme. kann man schallwellen konsumieren? für mich ist konsumieren etwas materielles. ich konsumiere die schallplatte oder cd. nach paar tausendmal hören, hört sich eine schallplatte anders an. weil materielles verbraucht wird. kann man schallwellen verbrauchen?
sogar luft ist materiller als musik.

ein kollege würd sagen, menschen machen geräusche oder schallwellen. ein label packt sie in einem rahmen, sprich vinyl, cd, vervielfältigt sie oder malt ein bildchen dazu und stellt es online zum runterladen- kostenlos oder gegen geld.

können die jenigen die bessere geäusche erzeugen, ("besser" ist ja auch so ne sache),also sound die die mehr befürworter findet, für schallwellen geld verlangen? klar können sie das. man kann ja auch luft in dosen verkaufen. man kann die dose inhalieren, mit strohlam oder so, aber wenn man die dose ganz aufmacht, kann man sich beschweren das andere einem die luft wegatmen? und luft ist materiell. können leute die sound machen sich beschweren dass sie gehört werden?

diese schallwellen haben doch im internet ihre unendliche verfügbarkeit erst gefunden. man kann alle schalllplatten eines künstlers zerstören und wenn der künstler tot ist, keine kopien übrig sind und keiner es mehr kopieren kann, kann man sagen diese musik ist verloren. aber....

man müsste alle computer der welt zerstören, alle mp3 player, das digitale netzwerk, sicher gehen dass keine pcs mehr gebaut werden, damit man sicher gehen kann dass man an eine mp3 nicht mehr kommt.

der 17 jährige aus russland, macht auch nur sound und stellt ihn auf soundcloud. was will man dagegen machen? man kann bessere plattformen schaffen, also internetseiten, wo nur die "besseren" geräusche online gestellt werden. vimeo stellt "bessere" bilder online, aber ich mag das youtube video wo eine schimpanse auf die klaviertasten haut.

Binh hat gesagt…

...my two cents.

Alles hat seine Vor- und Nachteile.
Das Medium Schallplatte an sich bietet Vorteile, was die Konservierung des Inhaltes angeht (da "simpler" im Prinzip), aber Nachteile in Bezug auf Handlichkeit.
Ein digitales Medium bietet Vorteile in Bezug auf Verbreitungsmöglichkeit, Duplizierbarkeit und wohl auch einfacherer Erstellungs- als auch Manipulationsmöglichkeit.

Um mal direkt bei meinem Vorredner anzuknüpfen, greife ich den Aspekt der Vergänglichkeit auf.

Man bedenke, dass die digitale Form mitnichten ein Freifahrtsschein zur ewigwährenden Konservierung ist. Nicht nur aus meiner Tätigkeit als Fotograf kann ich bestätigen, dass es bei rein digitalen Inhalten nicht zu verachtende Komplikationen bezüglich der längerfristigen Erhaltung gibt. Da sei zum einen die physikalische Anfälligkeit der Trägermaterialien (Server, Festplatten), als auch die eingeschränkte Kompatibilität und Konsistenz innerhalb der Daten. Festplatten halten ein paar Jahre. Die Annahme, dass digitale Daten "haltbarer" seien, ist wohl viel mehr dem Fakt geschuldet, dass sie einfacher zu duplizieren sind, und man bei Servern eine redundante Sicherung laufen lässt. Somit kann man dann "einfach" eine Spiegelung für den abgerauchten Datenträger aktivieren (und niemandem fällt auf, das eine kaputte Festplatte nunmal auch eine KAPUTTE Festplatte ist). Soweit die Theorie. Weiterführend interessant ist die Tatsache, dass Dateiformate eine doch begrenzte Lebensdauer besitzen und dies angesichts des Tempos der technischen Entwicklung nicht besser wird. Was bei physisch gebundenen Formatswechseln bekannt ist (78er Schellackplatten, Lochkarten, Betamax, 8-Spur, Audiokassette, VHS, Datasette und und und), gilt ebenso für das digitale Pendant. Und entweder man konvertiert (wohl aber mit Qualitätsverlust und Übertragungsfehlern), oder der Inhalt ist nach einiger Zeit und Nichtbeachtung mangels Rückwärtskompatibilität aktueller Gerätschaften (und Software) kaum noch les- oder rekonstruierbar.
Staatsarchive haben massive Probleme, ihren Datenbestand zukunftssicher digital zu lagern und greifen doch größtenteils auf Film zurück, da zwar nicht unbedingt uneingeschränkt unanfälliger, aber mit richtiger Lagerung haltbarer und einfacher. Und wie so oft gilt: je einfacher, desto besser. Oder: je komplizierter, desto anfälliger.


Dies bringt mich zum nächsten Aspekt: die Auswirkung auf die Kultur.
Es geht nicht darum, ein bestimmtes Medium zu verteufeln, und ein anderes dogmatisch zu vergöttern.

Binh hat gesagt…

Es geht viel mehr darum, zu erkennen, was für welchen Zweck gut zu nutzen ist. Und welche Auswirkungen ein unreflektiertes Nutzungsverhalten nach sich ziehen kann. Wenn ich auflege, schleppe ich auch "nur" noch meinen Laptop, Kopfhörer, Kabel und weiteren Kleinkram, sowie maximal 15 Vinylplatten mit. Ich und mein Rücken trauern den Zeiten mit zwei schweren Plattentaschen nicht unbedingt nach. Schön war zwar das (notwendige) Vorbereiten zu hause, dann das herumkramen zwischen den Platten beim Auflegen, das Gefühl, der Griff zum Greifbaren, Fühlbaren. Aber schön ist es auch, heutzutage die Möglichkeit zu haben, dies und jenes auf eine ganz bestimmte Art und Weise dank digitaler Musikdatenbank auflegen zu können. Die benutzen Medien und Werkzeuge verändern unsere Art, das Kulturgut zu erstellen, wahrzunehmen und zu bewahren. Wohlbedacht selektiert, ist das ist gut so. Ich kaufe MP3s, wenn mir Sachen gefallen, die es leider nur digital gibt (der Künstler aber so einfacher die Möglichkeit hat, mir sein Werk zur Verfügung zu stellen). Ich kaufe auch noch Platten, wenn auch zugegebenermaßen weniger (was aber auch an dem Angebot der Veröffentlichungen liegen könnte), aber eine Platte im Schrank und anschließend auf dem heimischen Plattenspieler ist nunmal "erlebbarer" und wirklich haltbarer (ich habe tadellose Platten aus der Sammlung meins Vaters, als auch Großvaters - hingegen kaum selbstgebrannte CDs, die ich nach ZEHN Jahren noch problemlos lesen kann). Ich kaufe sogar noch Kassetten. Seien es Bulkpacks an Leerkassetten um in 417 Monaten endlich mal mein nächstes Mixtape vervielfältigen zu können, oder aber vereinzelt erworbene, liebevoll nostalgisch anmutende Ergebnisse anderer Kulturaktivisten , die ähnlich ticken und einen gewissen Charme der Reduziertheit der Dinge wertschätzen (Afta-1 veröffentlichte zum Beispiel jüngst sein Werk "FORM" auf Audiokassette). Will heißen, ich nutze die Vorteile der Flüchtigkeit des Digitalen, verlasse mich auf die Beständigkeit des Bewährten (in diesem Falle die der Konserve Vinyl), und hänge dennoch vereinzelt an den völlig unökonomischen und unpopulären Marotten des unheimlich charmebehafteten Fehlerhaften und Beschränkten.

Binh hat gesagt…

Dieser Gedankengang ließe sich wunderbar auch auf das Kulturgut Lesen übertragen (iPad, eBooks, PDF, Paperbacks, Buchhandel et cetera). Ebenso auf Bräuche und Sitten (oder ist ein Smiley ein guter Ersatz für eine verdammt bezauberndes Lächeln eines Gegenübers?). Letzendlich ist nur gefährlich, sich NICHT Gedanken darüber zu machen. Denn heute ist es schnell konsumiert, aber wer zeigt den Enkeln Aufnahmen der Generationen vor Ihnen, damit sie ihren Platz in der Geschichte ausloten können?

Ich habe irgendwann mal einen komischen Film geschaut, wo eine Sängerin ihre Stücke ausschließlich in Konzerten gespielt hat, und sich vehement gegen CD-Veröffentlichungen oder sonstige Konservierungen in physischen Medien ihrer Musik gestemmt hat. Denn, so ihr Gedanke, nur ein GESUNGENES Lied ist ein wahres Lied. Nur ein über die Generationen hinweg durch aktiver Ausübung lebendig gehaltenes Stück Kultur, ist echte Kultur. Alles andere wäre tot, oder aber zumindest nur eine Kopie. Ganz so übertrieben sehe ich es nicht, aber stand ich doch heute in der Kaufhalle und kam nicht umhin zu bemerken, dass ich mich nicht daran störte meinen mp3-Player zur Dauerberieselung vergessen zu haben, sondern mich vielmehr unglaublich gut fühlte, als ich zwischen Gurken- und Wurstkonserven einige Melogien vor mich hin intonierte. Und somit das Kulturgut Musik viel direkter (er)lebte, als es das Hören der Kulturkonserve je hätte vermitteln können.

Ein weites Feld...
Ich danke demjenigen, der sich den Steiner-esquen Wust an Wörtern hier durchgelesen hat, und ganz vieleicht etwas für sich mitnehmen konnte. Danke an das Internet für die Möglichkeit zum Austausch. Kein Dank an stumpfe Nutzer des Internets, besorgt euch ein Leben.


PS: All diese vielen Gedanken und Meinungen wären noch viel geiler (da lebendiger) an einem schönen Abend in der GTDK-Lounge mit Hintergrundsbeschallung (egal ob Serato oder 12"s) und Molle in der Hand - V, was geht???!

Gordon of Project: Mooncircle hat gesagt…

Vielen Dank, für eure Beiträge...
Es ging mir nicht um das Verurteilen, mich nervt nur das ein Leben vor dem anderen vergessen wird!
Ich mag es, wenn jeder Schritt nicht so einfach ist und man nicht gleich die Möglichkeit hat, jeden Blödsinn aus Reason oder Ableton irgendwo hochladen zu können. Wo wir unser Label aufgebaut hatten, gab es noch kein MySpace und uns wurde daher auch viel realistischer mitgeteilt, dass wir noch nicht so weit waren!

Such mal in einem riesen Müllhaufen, nach was brauchbarem...

Ich finde das Internet gut und ich mag es, Musik durch die ganze Welt zu tragen... Das ist nicht das Thema! Das empfinde ich auch als eine positive Weiterentwicklung.

Das Beispiel des Labels finde ich passend, während der eine ein paar Mp3's zusammenklatscht, arbeiten die anderen mühevoll und monatelang an einer richtigen Veröffentlichung. Ist dann ein Label, ein Label oder haben wir ein Release? Es verschwimmen mir zu viele Unterschiede in einen Brei, wo ich mich manchmal über diese Leichtigkeit der Musikszene wundere.

Wir lassen das jetzt mit diesen Cd's und das mit dem Vinyl abmischen würde ich auch knicken, weil wozu? Hört doch sowieso jeder zweite den Stuff laut über sein kleines Handy oder über Monitorlautsprecher, weil ebenfalls jeder zweite seine Musik über YouTube hört... So ein Schwachsinn, ehrlich! Wie stupide ist das denn?

Der Künstler wird sich bald einen richtigen Job suchen müssen, weil es keiner mehr für nötig empfindet, sich irgendwas zu kaufen! Nicht weil er es illegal bekommt, sondern weil sich der Zuhörer denkt, dann warte ich halt auf den nächsten schönen Track, den ich kostenlos über Soundcloud oder YouTube hören kann...

Versteht ihr das? Es geht hier nicht mehr um Qualität oder das individuelle eines Künstlers. Das sind nur noch Soundfiles mit einer Beschriftung, die fast keinen mehr interessiert.

Der Ton macht die Musik und das war es dann wohl schon.

"Da drüben spielt der Straßenmusiker ein schönes Lied, aber ich gehe weiter, denn ich habe keine Zeit und außerdem spielt irgendein anderer Straßenmusiker auch mal wieder was schönes, dann bleibe ich da mal stehen..."

Aber das beide nicht das gleiche spielen, wird vergessen... Das jeder einzelne etwas besonderes ist, spielt hier keine Rolle mehr.

Anonym hat gesagt…

Ich kann allen hier geposteten Kommentaren etwas abgewinnen. Insbesondere @Binh hat bereits ausführlich unterschiedliche Perspektiven zu dem von @Gordon aufgeworfenen Thema diskutiert. Daher möchte ich auch mit meinem Kommentar Binhs Weg folgen und noch ein paar Punkte ergänzen.

Vorher möchte ich noch sagen, dass ich @NSR's Definition von "konsumieren" nicht teile, sondern sehr wohl denke, dass der Begriff hier passt. Wenn man den lateinischen Stamm ("consumere" = verbrauchen, verzehren, verschwenden) zugrunde legt, finden sich diese Wortbedeutungen in Gordons Beobachtungen zur zeitgenössischen Musikrezeption via Internet doch ziemlich präzise wieder. Durch meine eigenen Beobachtungen kann ich zwar bestätigen, dass ein oberflächliches Musikinteresse genau zu den beschrieben Verhaltensweisen führen kann und vermutlich verstärkt auch führen wird. Dennoch gebe ich zu Bedenken, dass auch immer noch ein nicht geringer Teil unserer bild-orientierten Gesellschaft Bücher liest - Gutenberg (1440) sei Dank! (Auch wenn die gesellschaftliche Gruppe der Leser tendenziell den Anschein macht, vom Mainstream zur Randgruppe zu werden.)

Es gibt ja den beliebten Spruch, dass kein neu eingeführtes Medium es jemals geschafft hat, die bereits bestehenden Konkurrenzmedien vollständig zu ersetzen. Das mag unter der Makroperspektive durchaus korrekt sein (Buch, Schallplatte, Film, Video, Computerspiel etc. sind nun einmal unterschiedlich strukturierte Medienobjekte). Bei der Binnenperspektive (Schallplatte, Kassette, CD, mp3) bin ich da nicht mehr so ganz optimistisch, da es einige Kandidaten gibt, die bereits tote Arme der Audioentwicklung darstellen (vgl. die Liste der Tonträger in der Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Tontr%C3%A4ger).

Dies liegt jedoch in der Geschichte weniger an der Haltbarkeit bzw. Qualitätsverlust des Gespeicherten wg. falscher Lagerung (okay, gibt es auch), sondern m. E. primär an dem Problem der nicht mehr kompatiblen Hardware, die zur adäquaten Reproduktion benutzt werden muss (vgl. @Binhs Aussagen).

Ich hatte zu dem Thema einige meiner intensivsten Universitätserfahrungen in den Seminaren meines ehemaliger Professor Horst Völz (http://de.wikipedia.org/wiki/Horst_V%C3%B6lz). Der verzweifelte Mann hatte demjenigen, der im Rahmen seiner Abschluss- bzw. Doktorarbeit eine Lösung für das Inkompatibilitätsproblem finden würde, seine vollste wissenschaftliche Unterstützung inkl. Preisgeld ausgelobt. Nach Prof. Völz Prognosen werden wir in jener Epoche der Menschheit leben, von der nachfolgende Kulturen am wenigsten erfahren werden, einfach weil wir uns von den sich relativ langsam entwickelnden physischen Tonspeichern abgewandt haben, zugunsten der körperlosen und ökonomisch schneller verwertbaren digitalen Audioformate.

Je nach Ausgangsperspektive muss vielleicht nach unterschiedlichen Dimensionen von "Musik als (Kultur-)Trägerformat" gefragt werden. Schnell runtergeschrieben, fallen mir drei ein:

- der ökonomische Aspekt (zeit-, raum-, produktions-/vertriebs-)
- der ästhetische Aspekt (Haptik/Sinnlichkeit, Synästhetik, Schönheitsideal, Kunst)
- der soziale Aspekt (archivarisch, dokumentarisch, kommunikativ)

Anonym hat gesagt…

@Zeal ist ja bereits auf die ökonomischen Existenzbedingungen und -zwänge kleiner Labels eingegangen. Ich denke, dass der Alltag der Musikhörer und Musizierenden anders gelagert ist. Auch wenn es hier insbesondere um die Labelperspektive geht, so stelle ich mir drei kleine Fragen, die ich kurz (und hochgradig subjektiv!) anreißen will:

1. Wie höre ich aktuell Musik?
- Ich bin mittlerweile kaum mehr zu Hause, sondern größtenteils unterwegs, also muss es portabel und vielfältig austauschbar sein (= positiv für meine Zeitökonomie, negativ für Haptik und Synästhetik). Ich nehme mir nicht mehr die Zeit, mich zuhause mit dem Cover aufgeklappt zum Musikhören hinzusetzen, sondern verbringe die wenige Zeit mit meiner Familie, Freunden oder was-auch-immer. Wenn ich Musik höre, höre ich allerdings immer ganze Alben, und diese dann auch nicht nur einmal.
- Ich bin dankbar, dass ich mir nicht mehr meine Platten wie früher in Echtzeit unter Qualitätsverlust auf Kassette kopieren muss (= zeitökonomisch, Klangästhetik)
- Bei meinen unterschiedlichen Arbeitsplätzen kann ich keinen Plattenspieler aufbauen.
- Meine HiFi-Boxen habe ich zuhause abgebaut, da ich die knappe Freizeit liebe nutze, um über meine linearen Studioboxen Musik zu "produzieren" (wann immer ich dafür Zeit habe = zeitökonomischer Aspekt).
- Meine Plattensammlung habe ich aus Platzgründen der Familie aufgelöst (= raumökonomischer Aspekt). Nichts ist so raumarm wie eine Festplatte.

2. Warum und wie mache ich aktuell Musik?
- Ich bin Hobbymusiker, will damit kein Geld verdienen will (= negativer ökonomischer Aspekt)
- Ich will meine Musik dennoch zeigen (Feedback, Anerkennung, Kollabos). Hierfür nutze ich sehr gerne Plattformen wie Myspace oder Soundcloud (= positiver kommunikativer Aspekt für mich, negativ für Labels unter dem Aspekt Schönheitsideal und Kunst, sowie Zeitökonomie)
- Die Virtualität ist kostengünstig und hat eine potentiell große Reichweite (= positiver ökonomischer Aspekt). Damit versaue ich als Hobbymusiker natürlich das Qualitätsniveau und erhöhe das Grundrauschen (= negativer ästhetischer und zeitökonomischer Aspekt für die Labelarbeit)

3. Welche Funktion nimmt für mich ein Label ein?
- Es hat qualitative Selektions- und Strukturierungsfunktion (= archivarisch/dokumentarischer Aspekt, ästhetische Aspekte)
- Es ermöglicht mir, die gehörte Musik in ihrer Gesamtheit wahrzunehmen (Tonträger, Musik, Covergestaltung = Synästhetischer Aspekt, Kunst, Haptik/Sinnlichkeit)
- Das klassische Label hat Kosten (zeit-, raum- und finanzökonomisch durch A&R/Produktion/Vertrieb/Werbung), Netlabels können wesentlich kostengünstiger agieren.

Anonym hat gesagt…

Und genau da bekomme ich gerade den Eindruck, dass das Verhältnis zwischen Label und Hörer sich durch die Digitalisierung empfindlich verschlechtert hat (ach, was?!). Die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse der agierenden Gruppen sind flexibler und somit auch extremer geworden.

Unter ökonomischen Aspekten scheißen die einen lieber auf die Rezeptionsqualität, weil sie andere Aspekte wichtiger finden. Die Musikproduzenten/Labels sind nicht mehr in der Lage, die Hörerschaft und Rezeptionskanäle ökonomisch rational zu kontrollieren. Das Angebot ist so groß, dass es immer schwieriger wird, einen Break Even zu erreichen, da sich die potentielle Grundgesamtheit im Riesenangebot atomisiert. Kurzum: auch wenn diese ganze Entwicklung unter technologisch-ökonomischen Interessen losgetreten wurde, läuft sie Gefahr nicht mehr kostendeckend zu funktionieren. Die These der "Vermainstreamisierung der Musik- und Technologieindustrie" hat man aber schon 1997 auf der PopKomm diskutiert, sie ist also nicht neu.

Nimmt man die bereits angesprochene Problematik der Archivierung/ Speicherung/ Dokumentation hinzu, fliegt uns vermutlich die ganze Scheiße in 75 - 125 Jahren um die Ohren. In erster Linie führe ich das auf ein mangelndes historisches Bewusstsein in der aktuellen Gesellschaft zurück (nein, kein Nazischeiss, sondern ein menschliches, kulturhistorisches Bewusstsein), das nämlich nicht kostenlos ist, sondern in das durchaus richtiges Geld investiert werden muss.

Man kann sich fragen, was uns (als Kultur) letztlich wohl mehr kosten wird – der Gedächtnisverlust oder die nötigen Investitionen? Dazu müssten aber viele Menschen erst einmal von ihrer Verdränger-Attitüde runterkommen und sich dies bewusst machen - über sich als ca. 80 Jahre lebendes Wesen hinaus, sondern mehr im Sinne einer gesellschaftlichen Verantwortung.

Meine Frau stellte allerdings jüngst in Frage, ob den alles, was wir heutzutage so produzieren auch wirklich Wert wäre, archiviert zu werden. Schließlich hat in unserer Überflussgesellschaft der quantitative Output auch, im Vergleich zu anderen historischen Phasen, übermäßig zugenommen … Tja, wenn man den Menschen die Produktionsmittel so kostengünstig in die Hand gibt, was will man erwarten ;) Eigentlich darf kein ökonomisch agierendes Subjekt (auch Musiklabel) seinen eigenen Produktwert in Frage stellen, denn damit würde es an sich selbst und seiner Arbeit zweifeln - und wenn es dies doch tut, dann ist wieder einmal Idealismus gefragt.

doctor do hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Anonym hat gesagt…

Nachtrag:

"Ich mag Schallplatte, weil eine Schallplatte einen sehr spezifischen Klang hat. Also die Diskussion, ob Schallplatte jetzt besser klingt als digital, die brauchen wir nicht führen, weil messtechnisch ist es Unsinn, und das kann man auch ganz einfach nachweisen, und jeder, der was anderes erzählt, hat keine Ahnung. Aber rein subjektiv ist es sehr schön, was die Schallplatte macht. Also ich kann 500 Gigabytes MP3 irgendwo rumliegen haben und die laufen halt so nebenbei ab, aber eine Schallplatte hören bedeutet, ich muss ein mechanisches Artefakt auf einen Schallplattenspieler legen und muss den Tonarm aufsetzen, und nach spätestens 25 Minuten muss ich wieder was aktiv tun. Und das hat eine Komponente, die sozusagen eine gewisse Wertschätzung auch impliziert. Und ich glaube nicht, dass das aussterben wird."

(Robert Henke im Interview mit Detuschlandradio Kultur [http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1266479/])