Freitag, 10. Dezember 2010

Andys Weihnachtstagebuch: Seite 10 - Das Land ist still

Freitag, 10. Dezember 1999

Echt makaber! In meinem Weihnachtskalender hatte ich heute ein Herz. Gegen drei stand ich an der Haltestelle Eberswalder Straße und wartete auf die 20. In der Wendeschleife stand keine Bahn und aus der Gegenrichtung kam auch keine. Neben mir stand eine grauhaarige Frau mit einer dicken braunen Winterjacke. Ich überlegte gerade, ob ich nochmal in die Post hinter mir gehe, ehe die Straßenbahn kommt.


Als Andy noch ein kleiner Junge war, haben seine Eltern Biermann-Kassetten gehört und heimlich mit Freunden getauscht. Eins der Lieder aus seiner Kindheit kommt ihm nun wieder in den Sinn: Das Land ist still, die Grabsteine stehen wie Häuser - still, still, still.

Budummp. Ein dumpfer und kurzer Aufprall direkt neben mir. Die Frau war einfach nach hinten weggekippt. Jetzt lag sie da – auf dem Rücken, regungslos wie eine Schaufensterpuppe aus den 50ern. Naja, fast regungslos. Ich sah, wie ihre linke Hand an Spannung verlor und sich ganz langsam zusammenzog. Die paar Sekunden wurden zur halben Ewigkeit für mich. Ich musste die ganze Zeit auf die Hand starren. Ich konnte nicht anders. Ein Nachgeben oder ein letztes Festkrallen am Leben. Ich weiß nicht, was es war.

Ich stand einfach nur still da. Um mich rum wirres Treiben. Ob ich ein Handy hab, wollte wer wissen. Drei, vier Menschen hockten um die Schaufensterpuppe herum, fühlten den Puls und fühlten ihn nicht, stritten sich, wie man Erste Hilfe zu leisten habe. „Die hat einen Schock. Die Beine müssen hoch“, schniefte ein dicker Schnurrbart. „Stabile Seitenlage“, „Herzdruckmassage“, „Krankenwagen is uff'm Weg.“

Schon bog von der Oderberger ein Rettungswagen um die Ecke. Keine großen Worte. Die faltige Hand im braunen Mantel mit den fast genauso braunen Fingernägeln verschwand hinter orangen Sanitäterjacken mit silbernen Reflexstreifen. Ein Notarztwagen rückte nach. Immer noch keine Straßenbahn in Sicht. Keine Sirene beim Abtransport. Kein Blaulicht, keine Hektik. Stille in meinem Kopf. Wieder Stille um mich herum. Ein altes Lied von Wolf Biermann kam mir in den Sinn: „Das Land ist still.“ Könnte man auch mal sampeln.

Ich hab Tim und Laura erzählt, was ich gesehen habe. Tim meinte nur, dass er pro Tag mindestens drei Leichen zu Gesicht bekommt. Schön für ihn. Blöder Kommentar. Laura war etwas einfühlsamer. Ich hab schon zwei Tote gesehen. Einmal als Kind vor der Kaufhalle. Der hatte schon eine Decke überm Kopf. Einmal unseren Nachbarn gegenüber. Der hat sich einen Tag nach dem Mauerfall aus dem Fenster gestürzt. Auch schon wieder zehn Jahre her. Aber so nah war der Tod noch nie an mir dran. Naja, ich lebe. Ich hatte ja auch das Herz im Kalender.

Was bisher geschah:
Einleitung
Seiten 1,2,3,4,5,6,7,8,9

1 Kommentar:

A Kid Called Drum hat gesagt…

Deine Weihnachtstagebuch ist super!