Sonntag, 26. Dezember 2010

Andys Weihnachtstagebuch - Seite 24 - Grünes Licht

24./25. Dezember 1999

So einen bewegenden Heiligen Abend hatte ich noch nie. Ich habe mir von meinen Eltern den dunkelblauen Citroen ausgeborgt, den sie nach der Wende aus dem Politbüro-Fuhrpark in der Straßburger Straße gekauft hatten, bevor der zur einem Taxi-Unternehmen und einer Werkstatt umfunktioniert wurde. Ich sollte mit der Bonzenkarre zur Autowäsche fahren und nochmal volltanken, ein letztes Mal dieses Jahr. Die Tankstelle am Friedrichshain hatte den Benzinpreis zu Weihnachten von 1,51 auf 1,54 D-Mark hochgesetzt, die in der Prenzlauer Allee sogar auf 1,55. Schade ums Geld. Ich holte Laura ab und setzte sie ins Auto. „Darf ich fahren?“, war ihre erste Frage. „Äh, nee, naja, später vielleicht, aber eigentlich nicht.“, war meine nicht ganz eindeutige Antwort. Ich erzählte ihr, wie meine Eltern zu der Karre gekommen waren, als wir an der Straßburger vorbeifuhren.


Soviel steht fest: Andy, Tim and Laura will not return. Aber sicher freuen sie sich, dass Du elf Jahre später einen kleinen Blick in ihr Leben voller kleiner und großer Höhen und Tiefen geworfen hast, fast über einen Monat hinweg. Tim lebt noch immer in Düsseldorf und arbeitet dort als Sound-Designer für eine Werbeagentur. Nach Berlin kommt er nur noch ganz selten. Andy und Laura sind nach zwischenzeitlicher Trennung wieder zusammen und nicht mehr nur als Zweiergespann. Laura war zwei Jahre in Mexiko und ein Jahr in Rumänien, um dort irgendwelche Selbsthilfeprojekte aufzuziehen. Andy hat es für vier Semester nach Kiew an die Ukrainische staatliche Filmhochschule verschlagen. Seine Kassettensammlung hält er noch immer in Ehren und baut seinen Bestand kontinuierlich aus.

Sie lachte. „Meinst Du, Egon Krenz hat schon hier auf meinem Beifahrersitz gesessen?“ „Krenz vielleicht nicht, aber Hermann Axen oder Günther Schabowski oder ...“ Ich war beeindruckt, dass ich fast noch das ganze Politbüro des ZK der SED auswendig kannte. Sie auch. „Wieso weißt Du immer so einen Scheiß? Was Du Dir immer für ulkige Sachen merkst.“ „Dafür bin ich scheiße in Mathe“. „Echt? Zwei mal sechs?“ „Äh, 12?“ „Mmh, richtig, und sechs mal zwei?“ „Pffff …“ - lange Pause - Wir lachten und standen schon vor der Autowaschanlage am S-Bahnhof Jannowitzbrücke. Zwei Blaumänner in gelben Gummistiefeln und mit braunen Schnurrbärten seiften das Auto ein. „Sexy!“ meinte Laura. Ein brummiger Vollbart kassierte ab. „Zwölf fuffzig macht dit. Danke. Antenne rein, Motor aus, Radio aus, Gang raus, Spiegel einklappen!“, brüllte er. Die kleine Ampel schaltete auf grün. Ein Förderband zog das Auto unter einen breiten Wasserstrahl, der nicht nur das Auto zittern ließ.

Laura berührte meinen Arm. Ich zog ihn zurück. Warum war ich in diesem Augenblick so schüchtern und verängstigt? „Denkst Du, ich merke das nicht?“, fragte sie mich? „Was?“ „Na was wohl?“ Nasse Stofflappen peitschten gegen die Karosserie und Lauras Handschuh peitschte gleichzeitig gegen meine Brust. „Wieso willst Du Dir eigentlich nicht eingestehen, dass Du volle Kanne in mich verknallt bist?“ Der harte Wasserstrahl, der jetzt übers Dach wanderte, ließ mich verstummen. Ihre Hand fuhr über meinen Kopf.

Mein rechter Nasenflügel zuckte. Eine riesige Bürstenrolle schob sich übers Auto. Ihr blauer Schal schmiegte sich in mein Gesicht. Lauter leichte Lappen tupften behutsam unser Auto ab. Ihre Hände zogen mein Gesicht an ihre endlos weichen Lippen. Heiße Luft hetzte tausend kleine Wasserperlen über die Windschutzscheibe. Lauras heißer Atem trieb gleichzeitig kleine Schweißperlen auf meine Stirn und meinen Rücken. Die kleine Ampel an der Ausfahrt zeigte grünes Licht. Draußen vor dem Tor wollte ich nochmal über die Seitenscheißen wischen und stieg aus. „Cool, jetzt darf ich fahren!“ Das hatte Laura nicht als Frage formuliert. Ich wehrte mich nicht. Wie ferngesteuert drückte ich ihr die Autoschlüssel in die Hand.

Wir fuhren sinnlos durch die Stadt, hielten an den dampfenden Schornsteinen des Kraftwerks Klingenberg und knutschten, parkten an der Insel der Jugend in Treptow und knutschten, fuhren zum Polendenkmal am Friedrichshain und knutschten. Beim Fahren wärmte ich meine linke Hand unter ihrem Oberschenkel. Das war alles neu und doch irgendwie vertraut.

Weihnachten bei meinen Eltern war cool, entspannt und stressfrei. Sie hatten für Laura sogar vegetarischen Kartoffelsalat gemacht. „Ach, ich bin da nicht so dogmatisch“, meinte sie nur und probierte beide. Als wir alle vor der Glotze hockten, Russen- und Tschechenmärchen guckten, wurde ich ganz gefühlsduselig. Laura auch. Wieder spürte ich ihre unheilvolle Anziehungskraft. Sie hat sich stets ihre alles andere als abgestumpfte Sentimentalität bewahrt. Das mag ich an ihr.

Es war schon spät. Wir waren müde und kämpften mit aller Macht gegen die Weihnachtsträgheit an. Nächste Station: Pfefferberg. Der ganze Saal tanzte. Alle, mit denen wir mal zur Schule gingen, waren da, auch alle Nachbarschulen Schliemann, Lennon, Kollwitz, Kamille und Schwitters. City und The Doors sangen, was wir fühlten. Tanzen, küssen, küssen, tanzen. Die unverhofften Geschenke sind die schönsten.

Wir hatten schon Blasen an den Füßen und Risse in den Lippen, als wir Hand in Hand in unseren verqualmten und durchgeschwitzten Klamotten auf der Fahrbahnmitte durch die dunkle Dunckerstraße stolperten. Unser Weg durch das Treppenhaus dauerte noch länger als der gesamte Heimweg, weil wir alle paar Stufen übereinander herfielen und uns gegenseitig unsere kalten Hände unter die Pullover auf die nackte Haut pressten. Irgendwann landeten wir doch in ihrer neuen Wohnung. Kein Gedanke mehr an Tim. Er war weg. Sie zündete eine Kerze an. Im Fenster, in mir. Wir sprangen ins Bett. Ich blieb. Ich blieb noch lange … bis vor einer Stunde.


Was bisher geschah:
Einleitung
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9 Kommentare:

Robert hat gesagt…

Vielen Dank für den tollen Monat...ich bin gespannt, was nächstes Jahr ansteht.

Meikel Neid hat gesagt…

das lesen hat echt spaß jemacht.
danke jenz!

Unknown hat gesagt…

sehr schön...

DANKE! hat mir echt die kalten tage versüßt...freu mich schon aufs nächste jahr.

Unknown hat gesagt…

toll erzählt, mitreißend und ein stück geschichte... habs genossen

al hat gesagt…

hach, schön

Anonym hat gesagt…

Ich kann mich den anderen nur anschließen. Danke für diese Geschichte, Jenz!

Cabot hat gesagt…

ich zitier mal meinen vorredner Ecoluddit:"Danke für diese Geschichte, Jenz!"

Jenz Steiner hat gesagt…

Der Link zu Seite 5 ist repariert.

budd hello hat gesagt…

jo, dit war echt wat feines!